Kapitel 26
Sophie begleitete den Doktor zur Tür, so als würde sie nicht innerlich am ganzen Körper zittern. Als sie wieder die Treppe hinaufstieg, trat Patrick aus der Bibliothek.
»Hattest du vor, mir zu erzählen, was der Arzt gesagt hat?«
»Ja, später.«
»Nein«, stieß Patrick zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Komm bitte einen Augenblick herein. Ich würde gerne erfahren, warum du den Arzt gerufen hast.«
Sophie blickte sich hastig in der Halle um, aber es schien gerade kein Lakai anwesend zu sein.
»Ich denke nicht, dass ich das gerade möchte. Ich werde auf mein Zimmer gehen.«
»Sophie!«
Diesen Schrei haben sie wahrscheinlich sogar bis in den Dienstbotentrakt gehört, dachte Sophie. Sie machte kehrt und blieb drei Stufen vor dem Fuß der Treppe stehen.
»Er hat gesagt ... er sagte ...« Sie konnte nicht aussprechen, was er gesagt hatte. »Er hat gesagt, er werde morgen früh wieder kommen.« Das war die Wahrheit, wenn auch nur ein winziger Teil davon. Sophies Herz zog sich qualvoll zusammen. 0 Gott, sie wollte unbedingt nach oben gehen, fort von Patricks harter, fragender Miene. In ihrem Kopf pochte ein unerträglicher, qualvoller Schmerz.
»Du wolltest das Kind nicht«, hörte sie sich teilnahmslos sagen und ihre Stimme klang, als befände sie sich unter Wasser.
Als sie Patricks grimmigen Blick sah, klammerte sie sich erschrocken am Geländer fest. Was war nur mit ihrem Kopf? Patrick sagte etwas, aber sie konnte ihn nicht hören. Der Rhythmus ihres heftig pochenden Herzens war noch schneller als das Klopfen in ihrem Kopf und dieses gleichzeitige pulsierende Hämmern in ihrem Körper machte ihr Angst. Sophie klammerte sich noch fester an das Geländer und der Schmerz in ihren Fingern riss sie einen Augenblick lang aus dem Malstrom der Schmerzen.
Patrick schrie sie an und hinter ihm blieb Clemens mit entsetztem Gesicht stehen. Sophie versuchte sich krampfhaft auf Patricks Worte zu konzentrieren. Sie blickte von oben in seine schwarzen Augen, die sie zornig anfunkelten ... wahrscheinlich verabscheut er mich, dachte sie teilnahmslos.
»Was zum Teufel redest du da?«, rief Patrick außer sich. »Wie kannst du so etwas zu mir sagen? Ich will das Kind!«
Sophie lächelte ihn zaghaft an. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde ihr Kopf über ihren Schultern schweben. Zumindest ließ dieser schreckliche, pochende Schmerz nach. »Ich weiß, dass du keine Kinder möchtest«, sagte sie und ihre Worte klangen beinah tadelnd, als wäre er ein kleines Kind.
»0 Gott Sophie, wovon sprichst du nur?«
»Du warst froh, mich zur Frau zu bekommen, weißt du nicht mehr? Weil ich wahrscheinlich wie meine Mutter wäre, und dir keine Bälger zwischen den Füßen herumlaufen würden. Aber ich bin nicht wie meine Mutter -« Bei diesem Gedanken verstärkte sich das schwerelose Gefühl in ihrem Kopf.
Patrick bemerkte plötzlich, dass Clemens in der Halle stand, und starrte ihn so wütend an, dass der Butler blitzschnell hinter der Tür zum Dienstbotentrakt verschwand. Patrick versuchte, den unbändigen Zorn niederzukämpfen, der ihm die Brust abschnürte. Sophie wusste nicht, was sie sagte. Sie war schwanger. Schwangere Frauen waren immer irrational.
»Wovon redest du?«, fragte er langsam und deutlich, als wäre sie ein ungezogenes Kind.
Sophie schaute ihn überrascht an. Wie sehr wünschte sie sich, dass diese dumme Unterhaltung endlich ein Ende nahm und sie sich in ihr Bett legen konnte. »Du hast es Braddon gesagt«, erinnerte sie ihn. »Du hast es Braddon gesagt, und ich habe es mit angehört. Du sagtest, wenn du dir schon Fesseln anlegen lassen müsstest .... dann wolltest du lieber mich nehmen, denn ich wäre bestimmt so unfähig wie meine Mutter und dann würden dir nicht viele Bälger zwischen den Füßen herumlaufen.«
Einen Augenblick lang herrschte absolute Stille.
»Darf ich nun zu Bett gehen?« Sophie machte Anstalten, wieder die Treppe hinaufzugehen. Inzwischen war sie sich ganz sicher, dass ihr Kopf hoch über ihren Schultern schwebte und ihr Herz pochte so heftig, dass ihr ganz schwindelig war. Vorsichtig tastete sie rückwärts nach der nächsten Stufe und klammerte sich am Geländer fest. Sie hatte Angst, ihm den Rücken zuzudrehen und wegzugehen, solange in seinem Gesicht noch dieser unsagbare Zorn geschrieben stand. Sie fröstelte.
»Ich habe es nicht so gemeint, Sophie«, presste Patrick heiser hervor.
Sophie blickte ihn wortlos an. Seine Stimme klang nun wieder, als würde sie ihn durch Watte hören.
Sie nickte eifrig. »Du hast sicherlich Recht«, murmelte sie.
Patrick betrachtete seine Frau verzweifelt. Mit einem starren Lächeln auf den Lippen wich sie zurück. Vor ihm tat sich hoffnungslose, unendliche Verzweiflung auf. Sophie glaubte die schrecklichen Worte, die er gesagt hatte. Kein Wunder, dass sie sich nicht in ihn verliebt hatte. Kein Wunder, dass sie ihn ansah wie den Teufel höchstpersönlich.
»Sophie!«, schrie er, und mit diesem einen Wort brach all seine unterdrückte Enttäuschung und der Schmerz, der in seinem Herzen anschwoll, aus ihm heraus. »0 Gott, Sophie, ich will das Kind!«
Aber Sophie begriff gar nicht, was er sagte. Sie deutete seinen Ausruf als einen weiteren zornigen Schrei, und dies war mehr, als sie ertragen konnte. Sie stöhnte beinah dankbar auf, als sich eine süße Dunkelheit in ihrem Kopf ausbreitete und das schmerzhafte Pochen in ihren Ohren betäubte. Dann entspannte sie ihre Finger, mit denen sie krampfhaft das Geländer umklammerte.
Sophie schwankte leicht und fiel nach vorne und Patrick stürzte entsetzt auf sie zu. Es schien alles ganz langsam zu geschehen. Ihr Körper fiel wie eine Flickenpuppe nach unten, ihre Knie schlugen auf der letzten Stufe auf und ihr gewölbter Leib prallte auf den Marmorboden. Patrick gelang es nur noch, mit seinen verzweifelt ausgestreckten Händen ihren Kopf zu schützen, bevor er auf dem Marmor aufschlug.
Vorsichtig, ganz vorsichtig drehte er sie um und zog sie in seine Arme. Das Gesicht seiner Frau war leichenblass, bis auf die roten Flecken auf ihren Wangenknochen. Mein Gott, es ist gar kein Rouge, dachte er entsetzt. Ihr Gesicht glühte vor Fieber und ihr Körper war völlig regungslos. Das einzige Geräusch, das er hörte, war das Blut, das ihm in den Ohren rauschte, und eine innere Stimme, die immer wieder »bitte, bitte, bitte« zu rufen schien.
Hilfe. Er brauchte Hilfe. Sophies Augen waren geschlossen und ihre Lieder schimmerten bläulich.
»Clemens!«
Clemens erschien Sekunden später in der Halle, ein sicheres Zeichen dafür, dass er sich nur auf die andere Seite der Tür zum Dienstbotentrakt zurückgezogen hatte.
»Holen Sie den Arzt«, fuhr Patrick ihn an.
Clemens starrte die auf dem Boden liegende Herzogin benommen an. Dann richtete er den Blick auf seinen Herrn und das Entsetzen in seinen Augen machte einem Ausdruck des Vorwurfs Platz.
»Dr. Lambeth, Mann! Sofort!« Die Schuldzuweisung im Blick des Butlers verstärkte das Schuldgefühl in Patricks Herzen. Er wandte sich wieder Sophie zu und küsste sanft ihre Lider. Sie rührte sich nicht.
Geschickt tastete er ihre Knochen ab, aber sie schien sich nichts gebrochen zu haben. »Sophie ich trage dich jetzt nach oben«, flüsterte er, aber sie gab keine Antwort.
Er nahm sie auf die Arme und dabei fiel Sophies Kopf nach hinten auf seinen linken Arm. Zwischen ihren Schultern und ihren Knien wölbte sich ihr Bauch in die Luft.
Patrick schluckte schwer. 0 Gott, wenn dem Baby etwas geschehen war! Das Pochen in seinen Ohren verstärkte sich. Bitte, bitte, bitte, bitte, rief die innere Stimme.
Als Sophies Zofe angerannt kam, hatte Patrick Sophie bereits das Hauskleid ausgezogen und streifte ihr gerade ein Nachthemd über den Kopf. Simone half ihm stumm und dafür war er ihr dankbar. Als sie Sophie ins Bett gelegt und ihr die Decke bis zum Hals hochgezogen hatten, blickte Patrick Simone hilflos an.
»Was machen wir nun?«
»Hat sie sich bewegt oder etwas gesagt?«
Patrick starrte sie an.
»Hat sie noch etwas gesagt, nachdem sie die Treppe hinuntergestürzt ist?«
»Nein«, sagte er und seine Stimme war vor Sorge ganz heiser.
»Wir müssen sie abkühlen«, sagte Simone pragmatisch. »Sie glüht ja vor Fieber, das arme Lämmchen.«
Patrick verließ das Zimmer und gab den Befehl ungeduldig an einen Lakaien weiter, der am Ende des Korridors stand. Dann sah er zu, wie Simone sanft Sophies Gesicht abrieb. Sophie bewegte sich unruhig und stöhnte und versuchte, dem kalten Tuch auszuweichen. Schließlich konnte es Patrick nicht mehr ertragen, hilflos herumzustehen, nahm Simone das Tuch aus der Hand und schob sie beiseite. Dann setzte er sich auf die Bettkante.
»Wach auf, Sophie«, befahl er ihr mit sanfter Stimme und rieb seiner Frau mit dem Tuch über die Stirn. Nach ein paar Minuten öffnete sie die Augen.
»Es tut weh.« Sie blickte ihm in die Augen.
»Sophie, es tut mir Leid, ich wollte dich nicht anschreien ...« Vor Erleichterung wusste er schon nicht mehr, was er sprach.
Sophie musterte ihn stirnrunzelnd. »Es tut weh«, wiederholte sie.
Patrick nahm ihr schmales Gesicht in die Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Ihre Haut fühlte sich unter seinen Lippen erschreckend heiß an.
»Du hast Fieber, Liebes. Das tut immer weh. Mach dir keine Sorgen. Dr. Lambeth ist bald hier.«
»Nein! Er soll nicht kommen. Dann passiert es.«
»Nichts wird passieren, Liebling.« Wieder rieb Patrick ihr das Gesicht ab. »Ich lasse nicht zu, dass etwas passiert.«
»Ich glaube nicht, dass du es aufhalten kannst«, flüsterte Sophie. Ihre dunklen mitternachtsblauen Augen waren immer noch auf ihn gerichtet. »Du wirst mich bestimmt hassen.« Tränen traten in ihre wunderschönen Augen und rannen ihr über die Wangen.
Patrick spürte einen Stich im Herzen. Sie fantasiert wohl, dachte er und beugte sich über sie, um ihr die Tränen fortzuküssen.
»Nichts könnte mich dazu bringen, dich zu hassen, Sophie. Weißt du das denn nicht. Weißt du nicht, wie sehr ich dich liebe?«
Aber Sophie hatte den Blick von seinem Gesicht abgewandt. »Es tut so weh!«, schrie sie plötzlich.
Erst als Simone ein anderes Tuch reichte, bemerkte Patrick, dass das erste bereits ganz heiß war.
Und so ging es weiter. Gelegentlich öffnete Sophie die Augen und murmelte etwas Unverständliches, dass er sie hassen werde und Ähnliches ... und in der Zwischenzeit wusch er ihr immer wieder das Gesicht ab, bis die Tropfen, die ihr die Schläfen hinunterliefen, das Laken unter ihr völlig durchnässt hatten. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte und er musste unbedingt etwas tun. Mehrmals schickte er zornige Nachrichten an Dr. Lambeth.
Als sich die Tür schließlich öffnete, starrte Patrick den guten Doktor so grimmig an, dass es einen weniger zähen Mann bis ins Mark erschüttert hätte. Aber Dr. Lambeth war schon mit einigen wütenden Angehörigen fertig geworden, so zum Beispiel erst kürzlich mit einem Viscount, der zum fünften Mal Vater einer Tochter geworden war. Und all diese Erfahrungen hatten den Doktor zu dem Schluss geführt, dass Ehemänner selten rationale Wesen waren. Er betrat geschäftig das Zimmer und legte Sophie sanft zwei Finger auf die Stirn.
»Sie hat Fieber«, sagte er nachdenklich. Dann wandte er sich an Patrick. »Hat es schon angefangen?«
»Was hat angefangen?«
»Die Fehlgeburt natürlich!«, fuhr der Doktor ihn an. Er hatte wirklich keine Zeit für solch einen Unsinn.
»Fehlgeburt ... Sind Sie sicher, dass sie das Kind verlieren wird?«Patrick hatte das Gefühl, als habe ihm jemand ein Messer ins Herz gestoßen.
»Ja.« Der Arzt sparte sich weitere Erklärungen, und als Patrick zu einer Frage ansetzte, hob er nur mahnend den Finger. Patrick sah, dass er Sophies schlaffes Handgelenk hochhielt und ihren Puls maß. Schließlich hob Lambeth Sophies Kopf und flößte ihr etwas Laudanum ein.
Dann warf er Patrick einen Blick zu. »Ich muss Sie bitten, nun den Raum zu verlassen, Euer Gnaden.«
Patrick erwiderte seinen Blick ohne Worte. Im Stillen dachte Lambeth, dass sich die meisten Ehemänner in so einer Situation zwar wie Teufel aufführten - schlimme Sache, wenn man den Erben verlor -, dieser hier jedoch sogar wie ein Teufel aussah. Und es gefiel ihm gar nicht, dass die junge Herzogin die Treppe hinuntergestürzt war. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte.
Als Patrick sich erhob, dicht vor ihn trat und ihn mit seinen schwarzen, zornigen Augen beinah durchbohrte, da schoss es Lambeth durch den Kopf, dass Foakes nicht nur wie ein Teufel aussah, sondern sich tatsächlich auch wie einer gebärdete.
Patricks Stimme klang gemessen, aber der Zorn, der bald losbrechen würde, war nicht zu überhören.
»Ich werde bleiben.« Er trat einen Schritt zurück.
Der Arzt zuckte die Achseln. Energisch zog er die Decke nach unten und zog Sophies Nachthemd nach oben. Dabei ignorierte er die empörte Reaktion des Ehemannes. Was glaubte er, was Arzte taten, wenn sie ihre Patientinnen untersuchten? Sie quer durch den Raum ansehen? Er untersuchte Sophie mit geübtem Geschick. Gut, es sah so aus, als sei ihre Fruchtblase schon geplatzt. Es konnte nicht mehr lange dauern.
Er drehte sich um und machte sich bereit, den Kampf mit dem Ehemann aufzunehmen, dessen Gesicht inzwischen, wie Lambeth sachlich feststellte, kreidebleich war. Wirklich, Männer hatten wirklich nichts bei einer Geburt zu suchen. Und er wusste auch nicht, warum sich dieser hier weigerte zu gehen. Der Mann sah aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen, obwohl nur wenig Blut zu sehen war. Lambeth drehte sich um und zog die Decke der Patientin nach oben.
»Ich muss darauf bestehen, dass Sie gehen«, sagte Dr. Lambeth so bestimmt und autoritär wie er konnte.
Patrick richtete seine brennenden Augen auf das Gesicht des Arztes.
»Warum?«
»Weil mich Ihre Anwesenheit nervös macht«, gab Lambeth unumwunden zu. »Ich benötige meine ganze Konzentration für die Geburt des toten Kindes und das Wohlergehen der fiebernden, halb bewusstlosen Mutter. Ich kann es nicht gebrauchen, dass Sie herumstehen und mir bei jeder Routineuntersuchung einen bitterbösen Blick zuwerfen.«
Patrick begegnete dem mitleidlosen Blick des Arztes. »Ist es nicht möglich, dass das Baby doch lebt? Es ist ... sieben Monate alt.«
»Nein.« Der Ton des Doktors war endgültig. »Das Kind lebt nicht mehr.«
»Ich werde nichts tun. Ich werde einfach nur dort drüben bleiben.« Patrick zeigte auf die Wand.
»Nein.«
Patrick betrachtete den Arzt und erkannte, dass er ihn nicht einschüchtern konnte. Lambeth wusste nur zu gut, wie wichtig er war.
»Schwebt meine Frau in Gefahr?«
»Das bezweifle ich«, erwiderte Lambeth ruhig und blickte nicht einmal zu seiner Patientin hinüber, die in einen unruhigen Schlaf gefallen war. »Es ist wahrscheinlich sogar besser, dass Ihre Gnaden die Geburt nicht bei vollem Bewusstsein mitbekommt. Auch wenn sie nicht besonders schmerzhaft werden wird, denn schließlich ist das Kind noch nicht ganz ausgewachsen.«
Patrick schluckte hart. Er ging auf die Tür zu. Dann blieb er stehen und drehte sich noch einmal um.
»Ich will das Baby sehen, wenn es da ist.« Seine heisere Stimme konnte kaum die Qual verbergen, die in seinem Inneren tobte.
Mein Gott, was soll denn das?, dachte Lambeth im Stillen.
»Ich kann Ihnen mitteilen, ob Sie einen Erben gehabt hätten«, sagte er missbilligend.
Patricks Augen blitzten ihn aus seinem kreidebleichen Gesicht wütend an. »Was zum Teufel spielt denn das Geschlecht für eine Rolle? Ich will das Kind sehen, Doktor. Falls Sophie nicht rechtzeitig aufwacht, wird sie wissen wollen, wie es ausgesehen hat.«
Dr. Lambeth schenkte dem Mann seiner Patientin ein kleines Lächeln. Nun, das war eine Antwort genau nach seinem Geschmack.
»Ich werde Sie im passenden Moment rufen lassen, Euer Gnaden«, sagte er spröde und schob Patrick auf die Tür zu. »Es wäre mir lieber, Sie gingen nach unten, vielleicht in Ihre Bibliothek. Ich werde dann klingeln und Sie rufen lassen, wenn es soweit ist.«
Patrick ließ sich ohne Gegenwehr auf den Korridor hinausschieben. Wie ein Geist ging er die Treppe hinunter und ließ die Hand über das Geländer gleiten, auf dem vor nur zwei Stunden Sophies Hand gelegen hatte. Am Fuß der Treppe blieb er völlig regungslos stehen und trat erst zur Seite, als eine Krankenschwester in einer weißen Tracht durch die Tür kam und begleitet von Clemens die Treppe hinaufging.
Wenn er sie doch nur nicht angeschrien hätte. Wenn er doch nur bemerkt hätte, dass sie Fieber hatte und sich nicht wohl fühlte. Warum hatte er sie angeschrien und sie dadurch die Treppe hinunterstürzen lassen? Patrick wusste nicht, was er tun sollte, ging in die Bibliothek, schenkte sich ein Glas Brandy ein und setzte es zwanzig Minuten später unangetastet wieder hin.
Ein, zwei Stunden lang ging er immer wieder auf dem Teppich auf und ab. Sein Weg führte ihn von dem Bücherregal aus Eichenholz zu dem Buchständer seines Vaters und wieder zurück. Die einzigen Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, rührten von seinem verwundeten Herzen und immer wieder stellte er sich die gleichen Fragen. Warum hatte er nicht sein Temperament gezügelt? Warum hatte er nicht bemerkt, dass seine Frau Fieber hatte? Er wusste doch, dass sie niemals Rouge trug!
Als es schließlich leise an der Tür klopfte, fühlte sich Patrick zwanzigjahre gealtert und völlig ausgelaugt. Er hasste sich selber. Die Krankenschwester stand auf der Schwelle und schaute ihn zaghaft an. Sie hatte vor einer Stunde eine Teepause gehabt und alles über diesen Herzog gehört, der seine Frau dermaßen erschreckt hatte, dass sie die Treppe hinuntergestürzt war. Er klang nicht nach der Sorte Mann, die man verärgern wollte.
»Euer Gnaden -« Sie verstummte. Sie hatte noch nie einen Vater erlebt, der sein totes Kind sehen wollte. Sie hatte den Vätern ihre Söhne gebracht und sie ihnen stolz als »Erben« angekündigt, und sie hatte den Vätern ihre Töchter gebracht und sie als »wunderschöne Wesen« bezeichnet. Aber diesmal ließ ihre Erfahrung sie im Stich. »Es ist ein Mädchen«, sagte sie schließlich.
Patrick trat schweigend auf sie zu und nahm ihr das kleine Bündel aus den Armen. Die Krankenschwester starrte ihn mit offenem Mund an.
»Gehen Sie«, sagte er barsch.
Schwester Mathers floh mit polternden Schritten die Treppe hinauf und teilte dem Arzt mit, dass er dem Vater selber das arme tote Kind abnehmen sollte, da sie mit so einem teuflischen Mann nichts zu tun haben wollte. Diese Augenbrauen! Ein wohliger Schauer durchlief sie, als sie sich ausmalte, wie sie ihn ihrer Mutter beschreiben würde.
Derweil hatte Patrick sich in der Bibliothek in seinen Lieblingssessel gesetzt. Sie hatten das kleine Gesicht seiner Tochter mit einem Tuch zugedeckt. Er zog es nach unten und legte es sanft um ihren Hals. Dann lehnte er sich eine Sekunde zurück und hielt das winzige Menschenkind im Arm, das so leicht war, dass es von seinem Arm hätte davonschweben können. Sie war blass, ihre Haut weiß wie frisch gefallener Schnee.
Schließlich stand er auf und stieg langsam die Treppe hinauf. Er fühlte sich wie neunzig, nicht wie dreißig.
Als Sophie vier Tage später zu sich kam, wusste sie sofort, was geschehen war. Furcht stieg in ihrem Herzen hoch und ihre Hand glitt automatisch zu ihrer Mitte ... aber das Baby war fort. Es war fort so als hätte das strampelnde Wesen in ihren Bauch nie existiert.
Sie sagte zwar nichts, aber die Stille im Raum veränderte sich. Patrick saß in einem Sessel neben ihrem Bett und er sah, wie sie mit einem schrecklichen Wissen in den Augen auf die Wand starrte. Der Moment, vor dem er sich seit Tagen gefürchtet hatte, war da. Sie schien ihn gar nicht wahrzunehmen, sondern starrte auf die Wand, während ihr Tränen über die Wangen liefen.
Patrick stürzte mit einem großen Schritt auf das Bett zu und sank auf die Knie. Er nahm ihre kleinen zerbrechlichen Finger in seine großen braunen Hände und vergrub sein Gesicht darin.
Sophie betrachtete ihn stumm. Ihre Tränen fühlten sich seltsam kühl an, wie sie eine nach der anderen über ihre Wange rollten.
»Es tut mit Leid, Sophie!«, stieß Patrick aus den Tiefen seiner Seele hervor. Ach weiß, ich kann es nie wieder gutmachen, aber bei Gott, es tut mir unendlich Leid!«
Sophie runzelte die Stirn. »Wolltest du das Kind denn?«
Er hob den Kopf, und sie bemerkte erschrocken dass seine Wangen von Tränen nass waren. »Ich wollte das Kind. Ich weiß nicht, warum ich so grausamen Dinge zu Braddon gesagt habe. Ich habe gelogen. Ich habe doch die ganze Zeit nur an das Kind gedacht.«
Sophie schluckte. »Es tut mir Leid, Patrick. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.«
»Was redest du da?«, fragte Patrick mit halberstickter, rauer Stimme.
»Das Baby. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, aber ich bin Schuld, dass unser Baby gestorben ist.« Sophie entzog Patrick ihre Hände und ihre Finger krallten sich immer wieder hilflos in die Decke. Unglücklich begegnete sie Patricks Blick.
Der schockierte Ausdruck, den sie darin sah überraschte sie. »Was sollst du getan haben?«: flüsterte er. »Ich habe dir Angst gemacht. Du bist wegen mir die Treppe hinuntergefallen.«
Sophie schüttelte den Kopf. Sie erinnerte sich nur verschwommen an die vergangenen Tage und wusste nichts von einem Sturz. »Welche Treppe?«
»Du bist die Treppe hinuntergefallen«, sagte Patrick langsam. »Du bist gestürzt und hattest eine Fehlgeburt, Sophie. Es tut mir Leid.«
»Nein.« Sophie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts von einem Sturz, aber das Baby hat einfach aufgehört zu leben. Das hat zumindest Dr. Lambeth gesagt. Ich war so krank, dass ich nicht klar denken konnte.« Sie verstummt und holte tief Luft. »Aber ich wusste es bereits, bevor es der Arzt mir sagte, denn es bewegte sich nicht mehr.«
»Sie«, verbesserte Patrick sie automatisch.
»Sie?«
»Wir hatten ein kleines Mädchen, Sophie. Ein bezauberndes kleines Mädchen. Hatte der Sturz etwa nichts mit der Frühgeburt zu tun, Sophie?« Seine Stimme klang so heiser, dass seine Worte beinah wie ein Krächzen herauskamen.
Sie nickte und murmelte dann etwas.
Patrick legte den Kopf auf die Bettdecke, als ein heftiges, gequältes Schluchzen in seiner Brust aufstieg. Er spürte, wie sich zwei schlanke Arme um seine Schultern legten.
»Nicht, Liebster, nicht! Wir hatten beide keine Schuld«, flüsterte Sophie mit einer neu gefundenen Weisheit im Herzen. »Sie war einfach noch nicht bereit für diese Welt.«
Patrick verharrte völlig regungslos und genoss das süße Gefühl, Sophies Arme um sich zu spüren. Die unbändige Freude in seinem Herzen vermischte sich mit Kummer -aber es war ein reinigender Kummer, auf den sich eine Zukunft aufbauen ließ.
»Leg dich hin.« Sanft drückte er sie zurück in die Kissen.
»Hast du sie gesehen?« Sophies Stimme klang so leise, dass sie beinah durch die Luft zu schweben schien.
»Sie war ein wunderschönes Baby, Sophie. Sie sah genau aus wie du.« Sanft wischte er ihre Tränen fort. »Ich habe ihr gesagt, wie sehr du sie geliebt hast.«
Tränen strömten über Sophies Wangen. Patrick saß am Bettrand und strich ihr immer wieder über die Locken.
»Sie sah aus, als würde sie in der Decke frieren, in die sie sie eingewickelt hatten. Also brachte ich sie hierher und wickelte sie in eine meiner Halsbinden. In eine aus Kaschmir, die ich immer im Winter trage.« Er blickte auf seine Frau hinunter, die immer noch weinte.
Sophie hob eine zitternde Hand und zog an Patricks Schultern, bis er sich vorsichtig vornüber beugte und sich neben sie auf das Bett legte. Mit einem Seufzen barg sie ihr Gesicht an seiner Schulter.
»Wo ist sie?«
»Sie ist auf dem Familienfriedhof begraben«, sagte Patrick ruhig. »Ich wollte dich nicht alleine lassen, also haben Alex und Charlotte sie nach Downes gebracht. Sie liegt neben meiner Mutter ... meine Mutter liebte Babys.« Er rieb seine Wange an dem weichen Haar seiner Frau.
Sophie schmiegte ihr Gesicht enger an seine Schulter. Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme so leise, dass er sie kaum verstehen konnte.
»Hast du ihr einen Namen gegeben?«
Patrick schüttelte den Kopf, aber dann wurde ihm klar, dass sie ihn nicht sehen konnte. »Ich dachte, wir könnten das gemeinsam tun.«
Er wollte ihr nicht erklären, dass Priester keine Kinder taufen konnten, die vor der Geburt gestorben waren. Oder dass der Priester der Familie nicht mehr der Priester der Familie war, weil er sich geweigert hatte, das Kind in heiliger Erde beizusetzen. Alex hatte ihn auf der Stelle entlassen und war sofort nach London geritten, um David Marlowe zu holen.
»Alex hat einen Brief geschickt und es ist auch einer von Charlotte gekommen. Sie treffen morgen in London ein. David hat die Predigt für das Baby gehalten - du erinnerst dich doch an David, nicht wahr?«
Sophie nickte. Natürlich erinnerte sie sich an den freundlichen braunäugigen Geistlichen, mit dem Braddon und Patrick seit ihrer Schulzeit befreundet waren.
Dann begann Sophie so heftig zu schluchzen, dass es ihren ganzen Körper schüttelte und Patrick konnte nichts anderes tun als sie zu halten und ihre sanfte, liebevolle Worte zuzumurmeln.